Die Ausbreitung der Glutensensitivität


Vor zwei Wochen habe ich in meinem Beitrag Die Geschichte der Zöliakie darüber geschrieben, wie das Krankheitsbild eigentlich entdeckt und erforscht wurde. Wie allgemein bekannt ist gibt es aber eben nicht nur die Stoffwechselkrankheit, sondern auch diverse Intoleranzen, die mit dem Kleberweiweiß Gluten in Zusammenhang stehen.

Doch warum wächst die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahren beständig an?

Offizielle Studien belegen weiterhin, dass nur etwa 1% der Bevölkerung an Zöliakie erkrankt sind. Trotzdem geht man von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus, die auf die vielfältigen Symptome und die langwierige Diagnose zurückzuführen ist. Die Zahl der Menschen mit einer Glutensensitivität oder – unverträglichkeit belief sich im Jahr 2005 jedoch bereits auf 6-10% (Quelle: University of Chicago Celiac Disease Center, Studie 2005). Das ganze Thema rund um das Klebereiweiß gewinnt zunehmendend an Prominenz, das Bewusstsein dafür steigt stetig. Zöliakie wird durch eine genetisch Veranlagung ausgelöst, Unverträglichkeiten hingegen sind häufig eine Reaktion, die auf einen Auslöser zurückzuführen sind.

Eine Begründung liegt in der Entwicklung der Anbaumethoden von Getreide in den letzten Jahren.

Brot, wie wir es heute kennen, hat mit dem Brot, dass vor 200 Jahren gebacken wurde nicht mehr viel gemeinsam. Schon das verarbeitete Weizenkorn ist nicht mehr dasselbe wie damals. Weizen wurde inzwischen genetisch so verändert, dass es nicht nur größere Ähren hat, sondern auch einen höheren Gluten- und Stärkeanteil. Das Korn hat eine komplexere genetische Struktur, die Reaktionen des Immunsystems hervorrufen kann. Nach Tausenden von Jahren hatte der menschliche Körper nur wenige Jahrhunderte Zeit sich dieser Entwicklung anzupassen.

Zudem kommen vermehrt Proteine im Weizen vor, die den komplizierten Namen Amalyse-Trypsin-Inhibitoren (ATI) tragen. Sie sind eine Art natürliche Pestizide und verhindern den Abbau von Stärke im Getreidekern. Es wird vermutet, dass diese erhöhte Anzahl der ATIs zu einem Großteil für Glutenallergien verantworlich sind.

Doch auch die Evolution der Backwaren an sich trug ihren Beitrag zu dem „Problem Gluten“ bei.

Früher waren ausnahmslos alle Brote Sauerteigbrote, wobei Sauerteig die Bestandteile natürliche Hefe und Milchsäurebakterien beschreibt. Doch als die Wissenschaft rausfand, wie man die Hefe isolieren konnte und somit süßere Brote herstellen konnte, verdrängte diese Form der Brote das klassische Brot im 20.Jahrhundert fast vollständig. Das Problem dabei ist der fehlende Fermentierungsprozess, der das Gluten in den Broten bis dahin mithilfe von Störstoffen runterbrach. Heute geht der Trend glücklicherweise wieder zu den gesünderen, klassischen Sauerteigbroten.

Eine weiterer Grund – der Placebo Effekt.

Immer mehr Menschen versuchen sich bei Magen-/Darmbeschwerden selbst zu diagnostizieren. Sie stellen ihre Ernährung jede Woche um und lassen ein mögliches Allergen weg, von Laktose über Fructose bis hin zum Gluten. Häufig glauben sie dann die Ursache identifiziert zu haben, denn wenn sie sich glutenfrei ernähren geht es ihnen besser. Die Frage ist nur, ist wirklich die glutenfreie Diät der Grund für die Besserung oder einfach die bewusstere Ernährung? In der Regel geht mit der Umstellung auf eine glutenfreie Diät auch ein stärkerer Verzicht auf industrielle Lebensmittel einher. Weniger Zucker und weniger leere Kohlenhydrate, dafür mehr frisch zubereitete Mahlzeiten, die sich positiv auswirken. Eine klare Diagnose kann definitiv nur ein Arzt stellen, von Selbstversuchen ist tendenziell eher abzuraten.

Du bist wahrscheinlich schon sicher diagnostiziert und deswegen ist es zwar prinzipiell nicht gut, dass sich Glutensensitivität ausbreitet, aber dennoch bringt es einige Vorteile mit sich. Eine größere Produktvielfalt, mehr Wissen über das Klebereiweiß in der Bevölkerung und ein verstärkter Durck auf die Forschung, durch die steigende Zahl der Betroffenen. Einziger Wehmutstropfen sind die Menschen, die uns nicht mehr ernst nehmen, weil wir laut ihrem Verständnis „nur eine Allergie“ haben, „ein bisschen Gluten“ schadet da ja nicht.